Editorial

Liebe Leserin, lieber Leser

Nun stehen sie also vor der Türe – die Sommerferien! Lang ersehnt, endlich raus aus dem Alltagstrott hinein ins «Süsse Nichtstun». Sind Sie auch schon «reif für die Insel» und freuen sich darauf, alle Ihre Alltagsgewohnheiten loszulassen? Kein einfaches Unterfangen. Erlauben Sie mir dazu eine philosophische Betrachtung. Mein «Lieblingsphilosoph», Wilhelm Schmid, hat diesbezüglich eine interessante These aufgestellt, die ich Ihnen vorstellen möchte:

Gerne wollte ich einmal einen Tag ganz ohne Gewohnheiten verbringen. Denn Gewohnheiten sind, so die landläufige Meinung, lästig. Sie halten uns vom wahren Leben ab, man muss sie hinterfragen und diese alten Muster aufbrechen. Was ist einfacher, als sie einfach abzuschaffen? Gewohnheiten sind von gestern, sie sind starr, während doch heute nur Flexibilität und Zukunft zählt. Gedacht getan – eines Tages beschloss ich, alles anders zu machen und auf alle meine Gewohnheiten zu verzichten. Vom Moment an des Aufwachens wollte ich über alles neu entscheiden. Das Problem war nur: Nun kam ich nicht mehr aus dem Bett. Ich überlegte hin und her: Soll ich aufstehen, warum, wofür, mit welchem Fuss zuerst?

Das raubte mir den halben Morgen und als ich endlich in der Vertikalen war ging es weiter: Was soll ich zubereiten, Tee oder sonst etwas, denn das Gewohnte (meinen heissgeliebten Morgenkaffe) war ja ausgeschlossen. Als ich mich endlich durchgerungen hatte, konnte ich mich nicht für eine Tasse entscheiden. Ich habe zwanzig verschiedene, brauche aber in der Regel immer die gleiche und die kam ja nicht in Frage, wollte ich nicht Gefangener meiner Gewohnheiten bleiben. Kurzum, ich kam nicht weiter und musste kapitulieren. Und genau das erweist sich als Triumph der Philosophie, die immer danach fragt, was etwas eigentlich ist: Die Gewohnheit, so weiss ich nun, ist eigentlich eine Entlastung von der Entscheidung, die ansonsten pausenlos zu treffen wäre.

Nur dadurch, dass ein Teil des Lebens wie von selbst abläuft werden die Kräfte frei, sich mit dem Ungewohnten intensiver befassen zu können. Aber das ist nicht alles. So richtig zu Hause bin ich nur dort, wo mir das Leben vertraut ist und wo ich mich geborgen fühle. In den eigenen vier Wänden? Nein, denn über diese verfüge ich auch im Hotel. Das wahre Wohnen ist ein Wohnen in Gewohnheiten. Gewohnheiten sind unverzichtbar, um sich das Leben einzurichten. Sie sind auch gelegentlich zu überdenken und aufzubrechen, um eine Umstrukturierung vorzunehmen, die aber nur gelingen kann, wenn sie wiederum in Gewohnheiten niedergelegt wird. Rundum sollten wir ihnen dankbar sein, den Gewohnheiten, den wir verdanken ihnen das Leben. Nichts desto trotz dürfen sie nun für kurze Zeit Abstand nehmen von ihren Gewohnheiten und «ab in die Ferien». Und freuen Sie sich darauf, nachher wieder in das gewohnte Leben zurück zu kehren. Im schönen Thalheim an der Thur.

Schöne Ferien!

Olaf Toggenburger
Primarschulpflege Thalheim an der Thur

Frei zitiert und angereichert aus: Wilhelm Schmid, Die Kunst der Balance, Insel Taschenbuch, 2005

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