Bräuche: Der kleine Schweinehirt

Am Ausgang des schönen und grossen Lac Léman, in dem sich die savoyischen Schneeberge spiegeln, liegt die stolze Schweizer Stadt Genf

In jenen alten Zeiten sah man oft von den schönen Gebäuden der Stadt und ihrer kleinen Dörfer der Umgegend aus ein Geisterschiff über den See hin schwimmen. Es leuchtete im Vollmond so hell, und eine wundervolle Musik von Harfenklängen begleitete es. Wenn es sich dem Ufer näherte, so konnte man auf dem Schiff eine weissgekleidete Jungfrau sehen, um die kleine Kinder, wie Englein oder grosse Falter, Ringelreihen tanzten. Die Jungfrau aber war so schön, dass einen die andern Frauen nur alte Hexen bedünkten, wenn man sie ansah. Wenn gar das Schiff irgendwo ans Gelände anstiess, gingen daran die wunderbarsten Blumen auf, wie man sie sonst nirgends zu sehen vermochte. Wer aber das glückhafte Schiff, wie es die Leute nannten, sah, dem ging der Wunsch, den er eben hatte, in Erfüllung.

Einst hütete ein Waisenknabe namens Johann, der von Brogny war, die Schweine. Den ganzen Tag hatte er mit ihnen auf der Weide zugebracht. Aber als es Nacht wurde, trieb er sie wieder gegen das Dörflein Saconnex zurück.

Es wurde immer dunkler und dunkler. Da ging über dem Mont Salève der Mond auf und baute eine goldene Strasse über den See bis nach der Stadt Genf. Da kam auf einmal Pferdegetrappel daher. Ein Tross Kriegsknechte ritt heran, also dass die Schweine nach allen Seiten auseinandersprangen. Hinter den Kriegsknechten ritt, begleitet von allerlei vornehmen Herren und Frauen, der Bischof von Genf, den der kleine Johann wohl kannte, denn er hatte ihn oft in der Stadt gesehen, wenn er im Münster an hohen Feiertagen das Pontifikalamt las.

Bald verhallte das Pferdegestampf, und nur die Wellen schlugen einförmig ans Ufer. «Ach», sagte das Büblein, «wenn ich doch auch so ein hoher, geistlicher Herr werden könnte!». In diesem Augenblick fuhr er erschrocken zusammen, denn hart neben ihm ertönte ein wunderbares Harfenspiel, und wie er sich umschaute, da schwamm, geisterhaft beleuchtet, ein schönes Schiff mit goldenem Drachenkopf an ihm vorbei, das acht weisse Schwäne zogen. Und im Schiff stand eine weisse Jungfrau und schien ihn freundlich lächelnd anzusehen. Da ward es ihm feuerheiss ums Herz, und seine Augen wurden geblendet. Er bedeckte sie mit beiden Händen. Als er wieder aufsah, war alles wieder still, und das glückhafte Schiff war verschwunden. Er hielt zuletzt alles für einen Traum, sammelte seine verlaufenen Schweine und zog dem nahen Dörflein zu.

Wie er ins Dörflein einzog, sah er beim Schuhmacher, bei dem er seine ersten Schuhe für den heiligen Pfingsttag bestellt hatte, noch ein Lichtlein brennen. Er ging hin und sagte durchs offene Fensterlein, er solle ihm die Schuhe nun doch nicht machen, da er das Geld dafür noch nicht zusammengebracht habe. Aber der Schuster griff unter sein Dreibein, zog ein hübsches Paar Schuhe hervor, hielt sie ihm hin und sagte lachend: «Da nimm sie! Sie sind schon fertig. Bezahlen kannst du sie, wenn du einmal Kardinal geworden bist.»

Da nahm sie der kleine Johann von Brogny freudestrahlend an und zog zufrieden heimzu, denn nun glaubte er, dass ihm sein langjähriger Wunsch nach einem Paar Schuhen von der Jungfrau des glückhaften Schiffes erfüllt worden sei. Seinen andern Wunsch, dass er ein grosser Herr wie der Bischof werden möchte, hatte er längst vergessen.

Doch Gott hat viele Wege. Ein Kardinal bemerkte einst den hellen Verstand und das fromme Gemüt des kleinen Johann von Brogny. Er nahm sich seiner an, und so kam er nach und nach immer höher, und eines Tages war er Kardinal. Und als er gar Bischof seiner lieben Stadt Genf war, was sein höchster Wunsch gewesen, lieh er den gütigen Schuhmacher des Genfer Nachbardörfleins zu sich kommen und machte ihn zu seinem Hofmeister.

dg

Quelle: Meinrad Lienert, Schweizer Sagen und Heldengeschichten, Stuttgart 1915.

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert