Gedankenflug: Musik muss direkt in die Seele gehen

Letzte Woche in der Bahnhof-Unterführung in der Stadt. Zwei Strassenmusikanten spielen russische Musik, jedenfalls mutet sie mich so an. Es ist diese melancholische und zugleich fröhlich-beschwingte Musik aus dem Osten. Der ältere Mann spielt Akkordeon, der junge ein Saiteninstrument. Beide mit einem feinen Lächeln um den Mund. Ihnen gegenüber an die Wand gelehnt steht ein jüngerer Mann, in sich gekehrt, ganz auf die Töne konzentriert. Seine Augen sind dunkel, die Musik muss direkt in seine Seele gehen und tief in ihm etwas berühren.

Das Bild lässt mich nicht los. Meine Gedanken hängen an dem jungen Mann. Die Musik wird ihn wohl an seine Heimat erinnert haben. Heimweh. Sehnsucht nach dem Ort, wo er seine Wurzeln hatte, wo er seine Wurzeln hat ausreissen müssen. Wie wenig wissen wir doch von den Sehnsüchten, vom Heimweh und den Sorgen der Menschen, die von weit her zu uns gekommen sind! Viele von ihnen unfreiwillig. Ein Fetzen Musik aus ihrer Heimat kann sie freuen und zugleich traurig machen – wie den jungen Mann in der Bahnhof-Unterführung. Töne sind es, Geräusche, Musik, die uns unvermittelt an etwas erinnern können. Auch Gerüche rufen Bilder in uns wach. Und ein bestimmter Geschmack auf der Zunge führt uns in frühere Zeiten zurück.

Ich überlege mir, was in mir Heimweh, Erinnerungen auslösen könnte. Da ist die erste Polizeisirene, die ich in Amerika hörte – sie machte mich starr, sie tönte wie die Luftschutzsirenen 1944 in Basel. Ein Ton, der in mir geblieben ist, obwohl ich damals noch ein «Buschi» war. Angenehmer ist der Geruch der trockenen roten Erde in heissen Ländern. Er bringt mich zurück nach Afrika, wo ich als junge Frau ein Jahr lang gelebt habe. Und wenn ich im Frühling irgendwo den feinen Knoblauchduft von Bärlauch rieche, dann denke ich an den Wald an der Thur. Am Muttertag bin ich unterhalb von Gütighausen spazieren gegangen, habe den weissen Blütenteppich im Wald gesehen und gerochen. Den Bärlauchduft muss ich nur ein Jahr lang vermissen – im nächsten Frühling wird er zuverlässig wieder da sein, direkt vor unserm Haus und ganz ohne Heimweh.

Ursy Trösch

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert